Glossar
Definitionen und Erklärungen
Lagerbegriff
Eine fest umrissene, einheitliche Definition von Lager existiert bis heute in der Forschung nicht. In Anlehnung an Ulrich Herbert verstehen wir unter Lager ein räumlich und sozial abgetrenntes Territorium, auf dem eine definierte größere „Gruppe“ zweckgebunden und provisorisch untergebracht ist. Kennzeichnend für Lager sind räumliche Enge, mangelnder Komfort und eingeschränkte Privatsphäre. Je nach Kontext ist Lagern als räumlichen Ordnungsinstrumenten eine jeweils eigene Mischung aus Verwahrung, Kontrolle und Betreuung eigen.
Ein Lager ist immer nur für ein vorübergehendes Verbleiben bestimmt. Der Zweck der Lagerunterbringung ist niemals allgemein definierbar, womit sich Lager grundlegend etwa von Gefängnissen, bei denen der Zweck der Unterbringung stets eine Strafe für rechtskräftig verurteilte Personen ist, oder von Lazaretten, deren Zweck in der Versorgung von verletztem oder krankem Militärpersonal liegt, unterscheiden. Während Gefängnisse individuell begangene Rechtsübertretungen sanktionieren, zielt die Unterbringung in einem Lager auf reale oder zugeschriebene Zugehörigkeiten zu einem Kollektiv ab (etwa jenem der Flüchtlinge oder Kriegsgefangenen). Zweck und Funktion von Lagern werden immer von ihren Betreibern bestimmt, woraus ihre Formenvielfalt resultiert, die im Fall der von Encampment erfassten Lager von Wohnlagern über Zwangsarbeitslager bis hin zu Filtrationslagern reicht.
Im Zuge des Forschungsprojekts Encampment wurden nur Lager erfasst, die mindestens etwa drei Wochen bestanden. Eine Ausnahme bilden die sogenannten Frontlager, deren Standorte häufig wechselten – weshalb ihre Existenzdauer an einem einzelnen Ort teilweise auch unter drei Wochen lag. Andere flüchtige Strukturen, wie Notquartiere und behelfsmäßige Unterbringungsformen in Scheunen, Wäldern oder Höhlen, bestanden meist nur wenige Stunden bis einige Tage. Besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren sie so weit verbreitet, dass ihre systematische Erfassung den Rahmen des Projekts gesprengt hätte. Auch (Zelt-)Lager von sowjetischen Soldaten fanden, wenn sie nur für einen sehr kurzen Zeitraum aufgeschlagen wurden, in Encampment keine Verortung.
Literatur:
- Ulrich Herbert, Das „Jahrhundert der Lager“: Ursachen, Erscheinungsformen, Auswirkungen, in: Peter Reif-Spirek – Bodo Ritscher (Hg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“. Berlin 1999, S. 11–27.
- Claudio Minca, Geographies of the camp, in: Political Geography 46 (2015), S. 74–83.
Frontlager
Bereits während des Zweiten Weltkriegs riefen die Rote Armee und das sowjetische Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKVD) im Hinterland der eigenen Front ein System von Lagern ins Leben. Es hatte primär die Aufgabe, Personen, die entlang der Frontabschnitte aufgegriffen bzw. gefangen genommen wurden, aufzunehmen, zu registrieren, einige Tage lang notdürftig zu versorgen und für den Weitertransport vorzubereiten. Diese Lager waren nicht stationärer Natur, sondern „wanderten“ mit der Front mit. Von sowjetischer Seite erhielten sie Bezeichnungen wie „Aufnahmelager“, „Sammelpunkte“ oder „Front-Durchgangslager“. Für gefangen genommene deutsche Wehrmachtsangehörige waren diese Lager die ersten Stationen ihrer Kriegsgefangenschaft, von denen sie per Bahn in die Lager des GUPVI (Glavnoe Upravlenie po delam Voennoplennych i Internirovannych / Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte) in der Sowjetunion verbracht wurden. Aufgegriffene sowjetische zivile Zwangsarbeiter wurden von den Frontlagern über Filtrationslager in die Sowjetunion repatriiert, andere „Displaced Persons“ in stationären Lagern untergebracht, oder es wurde ihre Heimkehr veranlasst. Die Frontlager wurden entweder in vorhandener Infrastruktur, etwa Gebäuden, notdürftig eingerichtet oder mit einfachsten Mitteln auf offenem Feld errichtet. Nach dem Ende der Kampfhandlungen im Mai 1945 blieben einige dieser „Frontlager“ auch ohne Front bestehen; das sowjetische Militär und der NKVD nutzten sie weiter, etwa als Durchgangspunkt für verhaftete Funktionäre des NS-Regimes oder zur Repatriierung von sowjetischen zivilen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen.
Die Frontlager nehmen innerhalb des Lagerkosmos von Encampment insofern eine Sonderstellung ein, als ihre Erfassung in der Lagerkarte durch den häufigen Standortwechsel mit kürzerer Verweildauer mehrgeteilt werden musste.
Literatur:
- Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1956. Wien – München 1995, S. 38–42.
- Erich Maschke (Hg.), Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges. München 1973-1974.
- Föderale Archivagentur der Russischen Föderation u.a. (Hg.), Orte des Gewahrsams von deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion (1941-1956). Findbuch. Dresden u. a. 2010.
- Pavel Polian, Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im „Dritten Reich“ und ihre Repatriierung. Münhen – Wien 2001.
Lager für rückkehrende Österreicher
Aus dem Ausland rückkehrende bzw. rückgeführte Österreicher wurden in eigenen Lagern untergebracht. Bei ihnen handelte es sich zum einen um Menschen, die als jüdisch galten und vor dem Nationalsozialismus in diverse Exilländer geflüchtet waren. Zum anderen waren es Menschen mit österreichischer Staatsbürgerschaft, die sich während der Zeit des Nationalsozialismus in Gebieten des Deutschen Reichs aufgehalten hatten. Zudem dürften die Behörden auch einige „Altösterreicher“ aus den ehemaligen Kronländern in diesen Lagern bzw. lagerähnlichen Unterkünften untergebracht haben. Die Lager wurden auch als „Österreicherlager“ bezeichnet.
Sowjetische Besatzungszone
Österreich wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den alliierten Siegermächten Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich besetzt. Das am 9. Juli 1945 geschlossene Zonenabkommen teilte jeder Macht eine Besatzungszone und Sektoren in Wien zu. Die sowjetische Zone umfasste dabei (nach heutiger geografischer und politischer Einteilung) Niederösterreich, das Burgenland sowie Oberösterreich nördlich der Donau (Mühlviertel). Ab April 1945 war Wien von der Roten Armee besetzt, erst am 1. September 1945 übernahmen die westlichen Alliierten ihre vereinbarten Sektoren, sodass die Bezirke 2, 4, 10, 20, 21 und 22 von da an zum sowjetischen Sektor gehörten. Mit dem Inkrafttreten des Österreichischen Staatsvertrags, der den Abzug der alliierten Truppen innerhalb von 90 Tagen vorsah, endete die Besatzungszeit offiziell am 27. Juli 1955.
Im Zuge des Projekts Encampment wurden ausschließlich Lager erfasst, die im geografischen Gebiet der durch das Zonenabkommen vereinbarten sowjetischen Besatzungszone lagen, auch wenn sie bereits vor dem 9. Juli 1945 errichtet worden waren. Die Steiermark, die bis Juli 1945 ebenso von sowjetischen Truppen besetzt war, findet demnach in Encampment keine Berücksichtigung.
Literatur:
- Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München 2005.
- Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955. Wien – München 2012.
Zivilverwaltung Mühlviertel
Nachdem die Rote Armee von 1. bis 8. August 1945 das Mühlviertel besetzt und Militärkommandanturen eingerichtet hatte, folgte mit 14. August die Konstituierung der Zivilverwaltung Mühlviertel (ZVM) mit Sitz in Linz-Urfahr unter der Führung des Staatsbeauftragen Johann Blöchl. Bis in den August 1955 hinein diente die ZVM als eigene österreichische Verwaltung für die sowjetische Zone Oberösterreichs nördlich der Donau.
Literatur:
- Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München 2005.
- Fritz Fellner (Hg.), Alltag und Leben im Mühlviertel 1945 bis 1955. Grünbach 2005.
- Edmund Merl, Besatzungszeit im Mühlviertel. Anhand der Entwicklung im politischen Bezirk Freistadt. 2. Aufl. Linz 1980.
Displaced Person
Der Begriff „Displaced Person“ oder „DP“ wurde in der Endphase des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit für Personen verwendet, deren Muttersprache nicht Deutsch war und die vom nationalsozialistischen Regime während des Zweiten Weltkriegs nach Österreich und Deutschland verschleppt worden waren. Es handelte sich vor allem um ehemalige zivile Zwangsarbeiter, ehemalige Kriegsgefangene, ehemalige KZ-Häftlinge und andere Verfolgte des NS-Regimes sowie staatenlose Personen. Die Alliierten und Hilfsorganisationen unterteilten die DPs zeitweise auch in verschiedene Untergruppen wie z. B. „allied DPs“, „ex-enemy DPs“ oder „United Nations DPs“. Teilweise fand sich in deutschsprachigen Dokumenten für diese Gruppe auch die Bezeichnung „versetzte Person“. Die Sowjetunion verwendete „Displaced Person“ in der Regel nur mit Verweis auf die westalliierte Definition und wandte den DP-Begriff und die damit verbundenen Versorgungsvorgaben in ihrer Zone nicht an.
Literatur:
- Gabriela Stieber, Nachkriegsflüchtlinge in Kärnten und der Steiermark. Graz 1997.
- Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951. Göttingen 1985.
- Dieter Bacher – Stefan Karner (Hg.), Zwangsarbeiter in Österreich 1939-1945 und ihr Nachkriegsschicksal. Ergebnisse der Auswertung des Aktenbestandes des „Österreichischen Versöhnungsfonds“. Ein Zwischenbericht. Innsbruck 2013.
„Volksdeutsche“ und „Reichsdeutsche“
Unter „Volksdeutschen“ verstand man Personen deutscher Muttersprache, die außerhalb des Gebietes des Deutschen Reichs von 1937 wohnhaft gewesen waren. Zu ihnen zählten etwa die „Sudetendeutschen“ in der damaligen Tschechoslowakei, die „Donauschwaben“ oder „Rumäniendeutschen“ im damaligen Rumänien oder die „Gottscheer“ im südwestlichen Teil des heutigen Slowenien. Viele von ihnen wurden nach 1945 wegen des Verdachts der Kollaboration mit dem NS-Regime aus diesen Staaten nach Österreich und Deutschland vertrieben, weshalb man sie heute in der Forschung meist als „deutschsprachige Vertriebene“ bezeichnet.
Der Begriff „Reichsdeutsche“ umfasst im österreichischen Kontext Personen deutscher Muttersprache, die innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs von 1937 wohnhaft gewesen und während des Zweiten Weltkriegs auf das Gebiet des heutigen Österreich gekommen waren.
Beide Begriffe wurden vom NS-Regime geprägt und instrumentalisiert, weshalb sie als problematisch anzusehen sind und in der Forschung nicht mehr als Definition verwendet werden. Auch auf dieser Webseite werden sie daher ausschließlich als zeitgenössische Begriffe in Bezugnahme auf das Quellenmaterial und unter Anführungszeichen verwendet.
Literatur:
- Gabriela Stieber, Nachkriegsflüchtlinge in Kärnten und der Steiermark. Graz 1997.
- Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951. Göttingen 1985.
- Tony Radspieler, The Ethnic German Refugee in Austria 1945 to 1954. Den Haag 1955.